Das Interview als sogenanntes weiches Untersuchungsverfahren wird vielfach geringer geschätzt als „harte“ Erhebungsmethoden (Tests, psychometrische Fragebogen). Diese Geringschätzung ist einerseits unberechtigt, beinhaltet andererseits aber auch ein Körnchen Wahrheit. Unberechtigt ist sie dann, wenn die Fragestellung eines Forschungsvorhabens nicht beachtet wird bzw. wenn nur solche Fragestellungen als zulässig angesehen werden, die quantitative (numerische) Daten erfordern. Zahlreiche Fragestellungen (z.B. nach den Motiven für ein bestimmtes Verhalten) lassen sich hingegen am besten durch qualitative (verbale) Daten beantworten. Eine gewisse Berechtigung hat die Geringschätzung des Interviews als Forschungsmethode insofern, als bisher kaum Wege aufgezeigt wurden, wie aus dem „weichen“ Interviewmaterial einigermaßen „harte“ quantitative Daten gemacht werden können.
Eine Verbesserung dieser Situation ist dadurch möglich, daß man eine (halbstrukturierte) Interviewtechnik und eine quantifizierende inhaltsanalytische Auswertung miteinander verbindet. Dies wird durch das Würzburger Verfahren der Codierung von halbstrukturiertem Interviewmaterial (WÜCI) ermöglicht. Das Spezifikum dieses Verfahrens besteht darin, daß die Konzeption des Forschungsinterviews und seine inhaltsanalytische Auswertung als eine methodische Einheit betrachtet werden. Der Interviewleitfaden, das Interviewmaterial und die Methode der inhaltsanalytischen Auswertung anhand der Würzburger Auswertungsskalen für halbstrukturiertes Interviewmaterial (WAI) sind eng aufeinander abgestimmt. Im Unterschied zu der bisherigen Praxis, die Interview und Inhaltsanalyse als zwei eigenständige und nicht systematisch aufeinander abgestimmte Methoden der Datenerhebung betrachtet, zielt das hier vorgestellte Vorgehen darauf ab, die Umwandlung der verbalen Daten aus dem Interview in numerische Daten für ein gegebenes Analysematerial gleichsam maßgeschneidert und daher ohne nennenswerten Informationsverlust vorzunehmen. Zwischen dem halbstrukturierten Interviewmaterial und dem Raster der inhaltsanalytischen Auswertung besteht eine Passung, weil dieses Raster (das Kategoriensystem) unter Berücksichtigung des konkret gegebenen Analysematerials entwickelt wird. Mit dem hier beschriebenen Vorgehen stehen trotz einer „weichen“, qualitativen Methode der Informationsgewinnung nach einem entsprechenden Auswertungsschritt „harte“ quantitative Daten auf Ordinalskalenniveau zur Verfügung. Es handelt sich bei der hier beschriebenen Methode also um die Integration von qualitativem und quantitativem Vorgehen bei der Datenerhebung, wobei jeweils die Vorzüge von Interview und quantifizierender Inhaltsanalyse maximiert und ihre Schwächen minimiert sind.
Im Rahmen des WÜCI steht mit den Würzburger Auswertungsskalen für halbstrukturiertes Interviewmaterial (WAI) ein Inventar zur Erfassung folgender Merkmale zur Verfügung:
Für diese Skalen der WAI liegen sowohl Belege für befriedigende Inter-Auswerter-Übereinstimmung (im Falle von zwei Auswertern) als auch für ihre kriterienbezogene Validität vor.
Wittkowski, J. (1987). Zur Erfassung emotional-motivationaler Merkmale anhand von Interviewmaterial: Darstellung und vorläufige Evaluation einer inhaltsanalytischen Methode. Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 8, 57-67.
Wittkowski, J. (1994). Das Interview in der Psychologie. Interviewtechnik und Codierung von Interviewmaterial. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Im Druck befinden sich Übersichten über den aktuellen Stand der Formdeuteverfahren einerseits und der projektiven Verfahren andererseits sowie über neuere Entwicklungen auf diesen Gebieten. Sie behandelten Formdeuteverfahren (siehe unten), verbal-thematische Verfahren (Thematischer Apperzeptionstest, Foto-Hand-Test, Picture-Frustration Test), semi-projektive Verfahren (LM-Gitter, Multi-Motiv-Gitter, Repertory Grid Technik) sowie zeichnerische und spielerische Gestaltungsverfahren (Mann-Zeichen-Test, Sceno-Test).
Über den wissenschaftlichen Wert von Formdeuteverfahren (FDV) werden seit Jahrzehnten erbitterte Grundsatzdebatten geführt. Die unterschiedlichen Standpunkte gegenüber FDV als Instrumenten für Forschung und praktische Diagnostik wurden im wesentlichen von Psychologen aus Forschung und Lehre („Akademikern“) einerseits und von praktisch tätigen, klinisch orientierten Psychologen („Praktikern“) andererseits vorgetragen. Die Praktiker machen geltend, mit Hilfe von FDV werde die Beschreibung komplexer psychodynamischer Vorgänge einer Person (z.B. ihre Affektsteuerung) einschließlich unbewußter Prozesse (z.B. Abwehrmechanismen im klassischen Sinne) möglich. Durch seinen ganzheitlichen Zugang liefere ein FDV zudem reichhaltiges ideographisches Material zum Verständnis der (psychodynamischen) Persönlichkeitsstruktur des Probanden und besitze daher großen Wert für die klinische Arbeit. Wegen dieser besonderen Vorzüge seien Testgütekriterien von untergeordneter Bedeutung. Seit den 1970er Jahren wurde die Erfassung psychodynamischer Aspekte der Persönlichkeit weniger betont, und an ihre Stelle trat der allgemeine Anspruch von FDV, Aussagen darüber zu machen, wie eine Person ihre subjektive Realität kognitiv organisiert und strukturiert, um von daher auf zugrunde liegende Persönlichkeitsmerkmale schließen zu können. Die Befürworter von FDV weisen darauf hin, diese Zielsetzung sei nur mit dieser Art von Untersuchungsverfahren erreichbar, und daher seien sie unverzichtbar.
Die Kritiker von FDV verweisen von jeher auf konzeptionelle und psychometrische Mängel der Testkonstruktion, auf ungeklärte oder unzureichende Gütekriterien und daraus resultierend geringen Vorhersagewert für das Verhalten des Probanden sowie auf die Komplexität der Interpretation, die dem Anwender einen großen Ermessensspielraum gewähre. Die Kritik an FDV orientiert sich damit an Anspruch und Konzept eines psychodiagnostischen Verfahrens als Meßinstrument (im Unterschied zu einem Verfahren, das allein auf die Benennung von Erlebensqualitäten abstellt).
Seit mindestens zwei Jahrzehnten sind FDV (der Rorschachtest und seine Modifikationen) in Deutschland kein Forschungsgegenstand mehr. Im Gegensatz dazu zählt der Rorschachtest in den USA zu den am häufigsten verwendeten diagnostischen Verfahren, und die internationale Fachliteratur – etwa im Journal of Personality Assessment – dokumentiert eine lebhafte Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der FDV.
Eine Übersicht über neuere Varianten von FDV sowie über Forschungsergebnisse zum Rorschachtest, die im wesentlichen auf 115 englischsprachigen Publikationen der Jahre 1985 bis 1995 basiert, behandelt folgende Inhalte:
Als Resümee und Schlußfolgerungen ergeben sich:
Es ergeben sich Forschungsdesiderata in fünf Punkten.
Wittkowski, J. (1994). Testbesprechung: Testauswertungsprogramm Rorschach-Test („Rorschach-Diskette“). Diagnostica, 40, 375-381.
Wittkowski, J. (1996). Zum aktuellen Status von Formdeuteverfahren. Diagnostica, 42, 191-219.
Wittkowski, J. (1997). Replik zur Rezension des Rorschach. Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 18, 96-99.
Wittkowski, J. (1997). Neuere Forschungsergebnisse zum Rorschachtest und seinen Modifikationen. In H. Mandl (Hrsg.), Bericht über den 40. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in München 1996 (S. 495-500). Göttingen: Hogrefe.
Wittkowski, J. (2011). Formdeuteverfahren. In M. Amelang, L. Hornke & M. Kersting (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Bereich B, Serie II, Band 4 Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik: Theoretische Grundlagen und Anwendungsprobleme (S. 241-298). Göttingen: Hogrefe.
Wittkowski, J. (2011). Projektive Verfahren. In M. Amelang, L. Hornke & M. Kersting (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Bereich B, Serie II, Band 4 Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik: Theoretische Grundlagen und Anwendungsprobleme (S. 299-410). Göttingen: Hogrefe.
Seit Jahrzehnten gibt es immer wieder öffentliche Diskussionen um die Qualität der Gutachten der Medizinisch-Psychologischen Untersuchungsstellen (MPU) zur Fahreignung alkoholauffälliger Kraftfahrer, die häufig sehr emotional geführt werden. Dabei wird von seiten der Technischen Überwachungsvereine die hohe Qualität der Gutachten betont, die sich bereits daraus ergebe, daß die Begutachtungen in Übereinstimmung mit den jeweils neuesten Richtlinien stünden. Durch die bloße Existenz von Leitlinien ist allerdings in keiner Weise garantiert, daß die Gutachten auch tatsächlich so erstellt werden, wie die Leitlinien dies vorsehen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, daß die Leitlinien selbst Einschränkungen hinsichtlich etablierter Anforderungskriterien aufweisen. Die Qualität der verkehrspsychologischen Eignungsgutachten der amtlich anerkannten Begutachtungsstellen für Fahreignung allein deshalb als gegeben anzusehen, weil die Begutachtungsleitlinien bestimmte Vorgaben machen, entspräche einer zirkulären Argumentation („Unsere Gutachten sind gut, weil wir sie für qualitativ hochwertig erklären.“).
Mit einer aufwendigen Evaluationsstudie, die gemeinsam mit Prof. em. Dr. W. Seitz, Wiesbaden, durchgeführt wurde, sollte die tatsächliche Begutachtungspraxis in den MPU differenziert ermittelt werden. Eine Stichprobe von 122 Gutachten fast ausschließlich des TÜV aus den Jahren 1996 bis einschließlich 1998, die aus 39 Begutachtungsstellen in 13 Bundesländern stammen, wurde anhand einer Merkmalsliste mit 8 Bereichen und 114 Einzelmerkmalen inhaltsanalytisch von zwei Auswertern klassifiziert. Der Merkmalskatalog wurde entwickelt aus allgemeinen berufsethischen Grundsätzen der Begutachtung, aus Grundsätzen zur psychodiagnostischen Informationsgewinnung und zur Abfassung des Gutachtentextes, die unabhängig von speziellen (inhaltlichen) Problemstellungen zu beachten sind, sowie aus fachpsychologischen und verwaltungsjuristischen Gesichtspunkten, die speziell für die verkehrspsychologische Begutachtung alkoholauffälliger Kraftfahrer bedeutsam sind.
Bei der Auswertung wurde anhand der Merkmalsliste festgestellt, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß jedes Merkmal in jedem der Gutachten vorhanden oder nicht vorhanden ist.
Die Ergebnisse sind umfangreich und vielfältig. Sie lassen sich auf folgende grundlegende Aussagen reduzieren:
Aus den Ergebnissen dieser Studie ergeben sich zwei übergeordnete Erkenntnisse. Zum einen sind die untersuchten Gutachten allein wegen der Sparsamkeit und Undifferenziertheit von Untersuchungskonzeption und Befunderhebung in ihren Ergebnissen unbefriedigend und genügen nicht dem Gebot der Nachvollziehbarkeit durch den psychologischen Laien und der Nachprüfbarkeit durch den Fachkundigen. Die zentralen Mängel in den evaluierten Gutachten bestehen darin, daß sie nichts zur Erklärung der alkoholauffälligen Verkehrsteilnahme im Einzelfall beitragen und in der Ableitung bzw. Begründung der diagnostischen Schlußfolgerungen unzureichend sind. Zum anderen weisen die Gutachten der evaluierten Stichprobe große Variabilität in ihren Qualitätsmerkmalen auf. Damit bestehen begründete Zweifel an einer bundesweit einheitlichen Begutachtungsqualität auf hohem Niveau.
Seitz, W. & Wittkowski, J. (2004). Diagnostische Aufklärung des alkoholauffälligen Fahrens in Gutachten medizinisch-psychologischer Untersuchungsstellen. In B. Schlag (Hrsg.), Verkehrspsychologie. Mobilität – Verkehrssicherheit – Fahrerassistenz (S. 197-217). Lengerich: Pabst.
Wittkowski, J. & Seitz, W. (2004). Praxis der verkehrspsychologischen Eignungsbegutachtung. Eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung alkoholauffälliger Kraftfahrer. Stuttgart: Kohlhammer.
Wittkowski, J. & Seitz, W. (2005). Merkmale verkehrspsychologischer Eignungsgutachten der medizinisch-psychologischen Untersuchungsstellen. In Sektion Verkehrspsychologie (Hrsg.), Verkehrspsychologie bewegt – Personen, Systeme, Daten. Bericht über den 38. Kongreß für Verkehrspsychologie 2002 in Regensburg. www.bdp-verkehr.de/aktuell/archiv/kongress2002/index.html.